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Illustration bestehend aus verschiedenen Sprechblasen

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Artikel

Umwelt & Nachhaltigkeit

Wem gehören wir?

Samoa-Journal, Teil 2

Am dritten und vierten Tag von Sohaila Abdulalis Tagebuch nimmt sie an einem Workshop mit Studierenden teil, lernt ein ziemlich verschmutztes Flusssystem kennen und macht sich mit samoanischen Bräuchen und Besitzverhältnissen vertraut. Sie denkt darüber nach, wem eigentlich Wissen gehört, wie sich Besitz anfühlt und nimmt am samoanischen Sonntagsfest Umu teil.

Dies ist der zweite Teil. Lesen Sie auch Teil 1, Teil 3, und Teil 4.

Zeichnung von einem schwarz-weiß-gemusterten Vogel, der ein Banner im Schnabel trägt, auf dem steht: "Day 3 Citizen Art, Citizen Science", ein Pinsel mit roter Farbe hält er in seinen Klauen

Samoa Journal #3 – Bürgerkunst, Bürgerwissenschaft

Heute wird viel gekichert. Kichernde Mädchen sind eine der Freuden des Lebens, daher war es ein herrlicher Morgen.

Wir zogen alle zum Vaisigano, zur ersten Phase des Bürgerwissenschaftsworkshops, als da wäre: uns kennenlernen, den Fluss kennenlernen. Aha, ein Fluss ist nicht unbedingt ein Fluss. Der Vaisigano gilt als Flusssystem, nicht als Fluss – in Samoa hat ein und dasselbe Gewässer unterschiedliche Namen, je nachdem, wo man sich gerade befindet. Der Ort, an dem wir mit den kichernden Mädchen stehen, heißt Malifa, und der Fluss heißt dort Loto O Samasoni oder Die tiefen Wässer von Samson.

Das Team des Übersee-Museums wurde von einer ganzen Reihe Universitätsmenschen begleitet, darunter zwei Lehrkräfte (Sene Taupega-Satau und Asonei Leauga), zwei Labortechniker (Taua Veni und Letitaia Simi) und dem Mann der Stunde, Ieremia Gale – einem Künstler im Bildungsministerium. Gleich nach seiner Ankunft brachte er die zurückhaltenden Studenten zum Lachen. Außerdem war da Fa’ainuseilamalie Latu, Lektor am Naturwissenschaftlichen Fachbereich. Es gab Fahrer, Videofilmer, Fotografen und energiegeladene junge Männer, die sich uns begeistert anschlossen.

Zeichnung mit verschiedenen Sprechblasen und Doktorhüten

Mit der Bezeichnung „kichernde Mädchen“ will ich die intelligenten jungen Frauen auf unserer Exkursion nicht herabsetzen. Ja, sie kicherten, und das war wunderbar. Aber jede einzelne war so mutig, im Fluss zu waten, mit Farbe zu spielen und sich vor die ganze Gruppe zu stellen und ihre Malerei zu erklären. Und jede Einzelne schien ihr Studium sehr ernst zu nehmen und hatte entweder Zukunftspläne oder war offen dafür. Audrey etwa ist Vorsitzende des Studierendenverbandes. Sie ist eine sehr gute Biologiestudentin. Sie unterhielt sich mit mir, während sie Farbe auf Farne auftrug und diese dann auf Leinwand presste. Nachhaltige Entwicklung interessiert sie ebenso wie Biotechnologie, und sie möchte ihren Abschluss in Neuseeland machen. Ich hoffe, sie schafft es dorthin.

Eine Studentin, die zu spät kam, weil sie noch in der Kirche gewesen war, wurde im Bus begeistert begrüßt. Schließlich stieß noch ein junger Mann zu uns, aber der Tag stand eindeutig im Zeichen der Frauen.

Zeichnung von 4 Paar Füßen, die im Wasser stehen, dazu Müll und toter Fisch

Die Aufgabe sollte die tiefe Verbindung der Studierenden mit dem Fluss aufzeigen, aber – die gab es nicht. Sie gehen nur an den Strand. Der Anfang war holprig, da nur ein sehr steiler Pfad zum Wasser hinunterführte, und alle zögerten. Da war ein frischer Abfallhaufen. Zwischen Fluss und Straße gab es menschliche Fäkalien. Ein Abschnitt des Flusses stank. All das war über Nacht passiert, denn als das Team den Ort tags zuvor gecheckt hatte, war alles unberührt gewesen. Aber dann schien die Sonne, das Wasser flussaufwärts glitzerte, der Wasserfall war hinreißend, und plötzlich kletterten wir hinunter und plantschten im Wasser. Das ist die herzzerreißende Realität überall auf der Welt: Man kommt ins Paradies und wird von Plastikflaschen und Gestank empfangen.

Zeichnung, auf der drei Paar Hände auf 3 Papierbögen künstlerisch tätig sind mit Farbe, Blättern und Zweigen

Wenn wir Bürgerwissenschaft wollen, müssen wir die Realität einbeziehen. Und schon bald waren Gerüche und Müll vergessen, es zählten nur noch der herrliche Tag, das Wasser und die Bäume, und nach Erkundung und Umherstreifen setzten sie sich mit Papier und Leinwand hin, um zu zeichnen und zu malen. Zunächst erklärten alle, dass sie Naturwissenschaften studierten und keine Künstler waren, und dann straften sie sich selbst Lügen, indem sie

  • Holzstückchen auf ihre Leinwand klebten
  • mit den Fingern malten
  • sich von Bildern auf ihren Handys inspirieren ließen
  • Farben vermengten und damit herrliche Wirbel und Farbtöne produzierten
  • Teile von Pflanzen und Blumen sowie Kiesel aufklebten
  • bis auf gelegentliches unvermeidliches Kichern völlig in ihrer Arbeit aufgingen

Kein Zweifel, sie sind Künstler. Ein Klecks Gelb im Blau – aaah! Wer könnte da widerstehen?

Nachdem das höchst befriedigend gefeiert, gezeigt und erklärt worden war (Audrey erntete Gelächter für ihre schöne Kreation, als sie erklärte: „Ich habe es romantisiert, also habe ich die schlechten Sachen alle weggelassen“), gingen wir auseinander, um uns in der folgenden Woche für den eher wissenschaftlichen Teil des Projekts wieder zu treffen. Die Studierenden werden Proben in einem anderen Bereich des Flusssystems sammeln, das sie heute mit neuen Augen gesehen haben. Ich werde herumschleichen und Notizen machen, und Kultur und Wissenschaft werden koexistieren, wie es sich gehört.

Zeichnung eines roten Vogelhauses, in dem zwei Vögel sich einen Wurm teilenIllustration, der Text ist: "Day 2 - My house is your house"

Samoa Journal #4 – Mein Haus ist dein Haus

Sonntag in Samoa. Man sagte uns, dass es ein besonderer Tag ist. Unserer war es auf jeden Fall.

Sonntag in Samoa, das heißt Kirche, Essen, Familie, Ausruhen. Mir ist klargeworden, dass jede Institution, die das Verständnis von Samoa fördern möchte, auf der Stelle Mitarbeitende in das Land schicken muss, wo sie einen Sonntag verbringen. So erkennen sie, wie das Land funktioniert, Grundvoraussetzung, um eine Gesellschaft zu verstehen. Man versteht auch, was Familie, Spiritualität und Essen bedeuten, und das ist schließlich entscheidend.

Unser Sonntag fand in einem Dorf an der Südküste statt. Jedes Dorf hat Häuptlinge, die Matais. Jedes Dorf hat mehrere Matais, die für ihre Familie und ihr eigenes Land verantwortlich sind. Achtzig Prozent des Landes sind gewohnheitsrechtlich in Familienbesitz, und die Oberhäupter sind dafür zuständig. Da man dieses Land nicht verkaufen kann, besitzt im Prinzip jeder in Samoa etwas Land, und Obdachlosigkeit ist schlicht nicht möglich. Das klingt in meinen Ohren wunderbar und ist es in vieler Hinsicht auch. Aber. Es gibt immer ein Aber.

Zeichnung mit mehreren Häusern, die im Kreis stehen, in jedem steht eine fröhliche Person, eine traurige Person ist ohne Haus

Dein Matai ist für „dein“ Land zuständig, und ohne seine (manchmal auch ihre) Zustimmung kannst du nichts tun. Wenn du unerlaubt verkaufst oder baust, ist das ein Sakrileg. Man stelle sich vor, man lebe mehrere Jahrzehnte in einem anderen Land und träume davon, sein Alter zuhause zu verbringen. Man kehrt auf die geliebte Insel zurück und will ein Haus bauen. Die Familie mit dem Matai an der Spitze muss zustimmen. Vielleicht bekommt man die Erlaubnis und die nötige Unterstützung. Alle sind glücklich. Aber vielleicht läuft es genau umgekehrt. Wenn man ohne Erlaubnis baut, könnte man ausgebremst werden und mit einem halb fertigen Haus dastehen.

Zeichnung mit weißen Blumen, Zweigen und einer Hand, die eine Glühbirne in den Händen hält

Wem gehört was? In Neongelb leuchtet die Frage in meinem Kopf. Ich komme aus einem Land, das die Briten für ihr Eigentum hielten. Meine Reisegefährten kommen aus einem Land, das dieses Juwel von einer Insel für sein Eigentum hielt. Eigentum ist die Wurzel der Konflikte und Annehmlichkeiten, mit denen wir es ständig zu tun haben. Und die zentrale Frage, die sich uns als Museum stellt: Wem gehört das Wissen, und wie teilen wir es? Wer bekommt die Trophäen, wer schreibt die Geschichten?

In Samoa „besitzt“ man Land, aber jemand anders verfügt darüber. Es gehört der Familie, nicht dem Einzelnen. In Deutschland, den USA und Indien kann man Land direkt besitzen, häufig mit vielen Einschränkungen – Bauplanungsrecht, Tradition, Korruption und natürlich das Klima, das uns eine lange Nase dreht, wenn wir glauben, wir hätten alles unter Kontrolle. Für mich ist die interessanteste Frage aber, was uns besitzt. In Indien fragen wir andere nicht, woher sie kommen. Wir fragen: „Zu welchem Ort gehörst du?“

Und das bringt es auch hier auf den Punkt. Den ganzen Tag heute war ich von einem echten Gefühl der Wärme erfüllt, umgeben von einer liebevollen Familie, wo sich einer um den anderen kümmert, für die anderen kocht, sich in den offenen Häusern der Anderen aufhält. Es ist einfach märchenhaft. Ich denke an all die einsamen verzweifelten Menschen in New York, und das hier fühlt sich an wie das Paradies.

Aber! Es gibt immer ein Aber. Was, wenn die eigene Familie nicht so liebevoll ist? Es gibt ganz gewiss keine Gesellschaft auf Erden, wo jeder freundlich und treusorgend ist und sich für die Interessen der anderen einsetzt. Was, wenn der Matai machtgierig oder ein Verbrecher ist? Was, wenn man eines Sonntags einfach keine Lust auf die Kirche hat oder allergisch auf das traditionelle palusami reagiert, das zu jedem Sonntags-toonai gehört? Etwas zum Nachdenken.

Zeichnung von einem Fisch, im Hintergrund Personen mit einer Bibel

Unser Fest hatte seinen Namen verdient. Umu, das Sonntagsessen, wird auf heißen Steinen gekocht. Das heißt, dass die jungen Männer am Samstag fischen, Holz hacken und alles Nötige beschaffen. Die jungen Frauen haben andere Aufgaben. Nach der Tradition muss das Feuer erloschen sein, wenn die Sonne am Sonntagmorgen aufgeht, sonst sehen die Anderen deinen Rauch und wissen, dass du verschlafen hast. In manchen Dörfern ist es Gesetz, dass alle zur Kirche gehen, bis auf ein oder zwei Leute, die sich um das Essen kümmern und dafür sorgen, dass alles fertig wird. (Und wieder fragt der nervige New Yorker: Was, wenn du einfach ausschlafen willst?)

Der Gottesdienst war herrlich, auch, weil ich kein Wort verstand. So konnte ich in aller Ruhe die Schnitzereien bewundern, die Buntglasfenster mit Darstellungen von Fischen und Vögeln, und all die Reihen prächtiger Damen mit prächtigen weißen Hüten. Ich weiß nicht, was der Pfarrer sagte, aber das war wahrscheinlich das Beste, denn ich konnte mir sagen, dass er wirklich weise Dinge sagte, was meiner Erhebung und Erleuchtung diente.

Und das Gelage danach, am spektakulären Pazifik unter einem Mandelbaum bei perfektem Wetter – es wäre grausam, das Festmahl jemandem zu beschreiben, der nicht dabei war. Nur ein Hinweis: Neben einem ganzen Schwein gehörte sehr viel Kokosnuss dazu, und es kommt auf die Liste der Besten Mahlzeiten aller Zeiten.

Dann ein Spaziergang durch das schöne Dorf, das verlassen dalag, nachdem alle geschlemmt hatten. Dann ein Bad im Pazifik und eine Wanderung durch den Regenwald. Ein Besuch im Paradies. Und es sieht in jedem Winkel anders aus. Der skeptische New Yorker könnte sich eingeengt fühlen. Der traditionelle Samoaner könnte sich pudelwohl fühlen. Der widerspenstige Dorfbewohner könnte sich schrecklich fühlen. Die Kinder, die in der Kirche herumrennen, könnten fühlen, dass es ihnen gehört, und dass sie zu ihm gehören, und ist es nicht genau das, wonach wir alle suchen?

(Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Thielicke)