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Illustration mit Logo des Museums (ÜM), das im Ozean steht, darüber fliegen zwei Vögel

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Artikel

Umwelt & Nachhaltigkeit

Das Projekt am Vaisigano-Fluss: Wissenschaft und Kultur treffen aufeinander

Samoa-Journal, Teil 1

Im Rahmen unseres Projekts im Vaisigano River besuchte die in New York lebende Schriftstellerin Sohaila Abdulali unsere Partner an der National University von Samoa. In Sohailas erstem Tagebucheintrag beschreibt sie ihre ersten Eindrücke von Samoa, überlegt, wie Museen Unterschiede und Gemeinsamkeiten würdigen können und wie schließlich Kultur und Naturwissenschaft in diesem Citizen-Science-Projekt zusammenfinden. 

Sie hebt die Mainas hervor: Vögel, die aus Indien mitgebracht wurden, um bei der Ausrottung von Kuhzecken zu helfen, und wie ihre Übernahme die einheimischen Arten Samoas bedroht.

Dies ist der erste Teil. Lesen Sie auch Teil 2, Teil 3, und Teil 4.

Illustration einer Palme mit Blüten und einem Vogel, der ein Banner im Schnabel trägt, auf dem steht: "Day 1"

Samoa Journal #1 – Grenzen, Begrenzungen, Durchbrüche

Mainas? Wir gehen in Samoa spazieren, mit dem größtmöglichen Abstand zu allem, was wir kennen: Michael, Diana und ich. Sie kommen vom Übersee-Museum in Bremen, ich von Bombay via New York. Wir schauen uns mit unseren europäischen, amerikanischen, indischen Augen um und erwarten die Verzückung. Und wir sind … aber dann – Mainas?

Ja, Mainas, die guten alten Gartenmainas, mit denen ich aufgewachsen bin, hübsche, muntere Vögel, deren verwaiste Junge meine Familie mit der Flasche aufgezogen hat. In ihrer großen Weisheit kam die Wildtierbehörde von Samoa zu dem Schluss, dass indische Mainas gegen Rinderzecken helfen könnten, und führte sie hier ein: 1965 den Urwaldmaina, 1988 den Hirtenmaina oder Hirtenstar. Natürlich (oder unnatürlich) war das ein Schuss in den Ofen, und heute sind die Vögel überall, bedrohen die einheimischen Arten und sind äußerst dominant. Sie sehen wie die Vögel aus, die ich kenne, klingen aber etwas anders – schriller, durchdringender. Daraus lerne ich: Wir Immigranten müssen lauter und verwegener sein, um uns in einer feindlichen Umgebung zu behaupten. Wir wissen, dass wir Außenseiter sind.

Die Entdeckungsreise des Museums, an der ich mit so großer Freude teilnehme, hat sehr viele Facetten, und das machen die Mainas mir heute Morgen klar. Hier haben wir eine Gruppe kluger und wertschätzender Menschen aus Europa, wo die Immigration ein zentrales Thema ist. Das Ozeanienprojekt des Übersee-Museums feiert zu Recht die Diversität und packt einige Hinterlassenschaften von Kolonialismus und Einwanderung an. Es könnte ziemlich reibungslos ablaufen, wenn sie sich auf diese eher konventionelle Aufgabe beschränken würden. Aber nein, sie beziehen auch die Naturgeschichte ein, und das Ergebnis ist ein Mix von faszinierender Komplexität.

Man bedenke nur mal: Die Forschung hat nachgewiesen, dass das Gastland von menschlicher Einwanderung letzten Endes immer profitiert. Und dass die Einführung nicht-menschlicher Lebewesen, ob Pflanzen oder Tiere, der Umwelt des Gastlandes normalerweise schadet. Unser unerschrockenes Museumsteam muss sich also mit beiden Realitäten befassen und daraus eine Ausstellung entwickeln, die die menschliche Bewegung feiert, sich aber auch kritisch damit auseinandersetzt, dass Arten sich in einer Umwelt breitmachen, in die sie nicht gehören. Nach einem Tag mit dem Team denke ich, dass sie die Richtigen für den Job sind – sie kümmern sich, sie sind offen, sie wissen eine Menge, und sie wollen lernen.

Zeichnung eines Vogels, der auf einer Schildkröte sitzt

Zurück zur Kava-Zeremonie [Kava ist die leicht narkotisierende Wurzel des Pfefferstrauchs, Anm. d. Übers.]. In der National University of Samoa (NUS) sitzen wir mit gekreuzten Beinen auf Matten, eine kunterbunte Truppe, bestehend aus drei Deutschen, einem Samoa-Australier und einer noch kunterbunteren Indisch-Amerikanerin. Gleich beginnt die Zeremonie, und das Surreale daran überwältigt mich. Ich bin so unendlich weit weg von meinem Zuhause, von beiden Zuhausen: In beiden Richtungen liegen Ozeane dazwischen. Und sie unterscheiden sich wie Tag und Nacht. Die Tattoos. Die Blumenkränze. Die Kava. Der Lava-Lava [Wickelrock für Männer, Anm. d. Übers.]. Es ist eine andere Welt. Moment mal. Ist es das wirklich? Massenhaft Tattoos in New York, massenhaft Blumengirlanden in Indien, an vielen Orten massenhaft Sarongs, die überall anders heißen.

Draußen sehe ich völlig andere Bäume, ich sehe aber auch Gul Mohur und Hibiskus und Kroton, die Bäume meiner Kindheit. Und vor allem: Wenn die Künstler tanzen, fühlt sich das trotz der unbekannten Bewegungen und Kostümen und Wörter und Musik so vertraut an, dass es mich geradezu irritiert. Ist mein Gehirn vom Jetlag durcheinander? Nein, es ist einfach die universelle conditio humana. Diese schönen jungen Menschen tanzen auf der Bühne, und es spielt keine Rolle, dass wir die Worte nicht verstehen, die Schritte nicht kennen und absurd weit von allem entfernt sind, was wir kennen.

Von Polynesien nach Potsdam nach Pune nach Pennsylvania – wir alle wissen, was es bedeutet, dass man einfach tanzen muss! Dass man dämlich grinst, weil es so viel Spaß macht, auf diesem verrückten Planeten zu leben, der so riesig und so winzig zugleich ist. Dass man vor Freude und Wut und ohne jeden Grund schreien möchte. Die Studenten tanzten, und wir waren alle bei ihnen, weil wir sie waren.

Zeichnung von Personen, die vor Palmen stehen

Und trotz all der realen Unterschiede in Kultur und Privilegien und Geographie erscheint diese verrückte Reise plötzlich nicht mehr so verrückt. Vielleicht geht es in dem Projekt des Übersee-Museums genau darum: Herauszufinden, was der gemeinsame Kern der menschlichen Beständigkeit und geistigen Unbeschwertheit ist, der irgendwo in uns allen wohnt, und: wie wir sie für uns alle nutzbar machen können. Vielleicht ist genau das die Aufgabe von Museen: die Unterschiede feiern und gleichzeitig anerkennen, wie viel wir gemeinsam haben. Plötzlich kommen die Museumsleute mir nicht mehr wie Fremde vor. Heute Morgen war ihnen heiß, sie schwitzten; ich ärgerte mich über meinen verschwundenen Koffer; am Nachmittag waren wir alle verzaubert und erwiderten das Lächeln der Tänzer. Wäre ich eine Gelehrte, könnte ich jetzt einen wohl durchdachten Hinweis auf den Tanz Shivas vom Stapel lassen, aber da ich das nicht bin, lasse ich es. 

Schon jetzt, an Tag 1, bin ich regelrecht süchtig: nach diesem bezaubernden und interessanten Land, wo alle lächeln – aber ich weiß, dass das Notfalltelefon für Frauen sehr viel zu tun hat –, und nach dem Team des Übersee-Museums, das engagiert und unaufdringlich Verbindungen knüpft und die Kooperation mit der NUS intensiviert. Unter Fremden, die gar nicht mehr so fremd sind.

Zeichnung mit drei Vögeln, die auf einem Ast sitzen und eine kleine Banderole, auf der steht "Day 2 - Lining up the Ducks"

Samoa Journal #2 – Planen und organisieren

Am zweiten Tag scheint das Team aktiv zu warten. Auf die Entscheidung zu warten, wann man sich trifft. Sich zu treffen, um zu entscheiden, wann man wartet. Das erste bürgerwissenschaftliche Event mit Studenten ist morgen, und wir warten auf Kush, obwohl wir wissen, dass er es nicht rechtzeitig schaffen wird. Warten auf einen Termin mit jemandem vom National Museum of Samoa. Warten, um die kommende Woche zu planen. Für mich als Außenseiterin ist es faszinierend, die unterschiedlichen kulturellen Praktiken zu beobachten. Es spricht für beide Seiten, dass die Samoaner und die Deutschen sich nach Leibeskräften darum bemühen, sich an die jeweils anderen Persönlichkeiten anzupassen und eine angenehme Form der Zusammenarbeit zu entwickeln. Es ist nicht so einfach, wenn Das-entspannte-Abwarten auf Unbedingt-alles-bis-aufs-i-Tüpfelchen-genau-machen-sonst enden-wir im-Chaos trifft.

Logo des Übersee-Museums steht im Ozean, im Hintergrund fliegen Vögel

Der Citizen Science Workshop ist der Höhepunkt von Jahren der Planung. Als das Übersee-Museum beschloss, seine Sammlungen an die Herkunftsländer zurückzugeben und ihnen auf höchst kreative Weise neues Leben einzuhauchen, hob es das Projekt Ozeanien Digital aus der Taufe und nahm Kontakt mit der National University of Samoa auf. Unter anderem im Fachbereich für Umweltwissenschaften war die Resonanz sehr positiv. Workshops, Vorträge, geplante persönliche Innovationstreffen – und dann kam Corona. Wie überall auf der Welt ging nichts mehr, die gesamte Planung war Makulatur, und neue Formen der Zusammenarbeit mussten gefunden werden. Es sprach für das Team, dass es nicht aufgab, und statt nach Samoa zu fliegen, fand es sich, wie wir alle, auf Zoom wieder.

Obwohl sie es mit drei verschiedenen Zeitzonen (Deutschland, Samoa, Indien) zu tun hatten, erreichten sie eine Menge. Die Finanzierung stand. Eine Fotoausstattung, der Corona zum Glück nichts anhaben kann, reiste über die sieben Weltmeere – vielleicht waren es auch nur zwei Weltmeere, aber jedenfalls eine Langstrecke. In der NUS konnte man die Exponate des Übersee-Museums online betrachten. Doch wieviel Umweltarbeit ist aus der Ferne möglich? Deshalb ist die Begeisterung groß, dass es nun endlich soweit ist.

Was genau geschieht jetzt?

Zeichnung mit mehreren Personen, die mit den Füßen im Wasser stehen und verschiedene Ausrüstungsgegenstände halten

Eine Studentengruppe, ein Künstler und ein paar Wissenschaftler gehen zu einem Fluss – so könnte ein Witz anfangen, es ist aber der erste Schritt in Richtung auf eine wichtige Wissenschaft. Dieses Pilotprojekt will Studierende auf neue Art mit ihrer Umwelt verbinden, Kunst und Wissenschaft verschmelzen, Kultur mit empirischen Daten kombinieren. Mir erscheint das absolut sinnvoll, und wenn man es recht überlegt, wäre jedes andere Vorgehen lückenhaft.

Mit Diana als Süßwasserforscherin und bereits bestehenden NUS-Projekten in diesem Bereich war die Entscheidung klar.

„Wir gründeten ein bürgerwissenschaftliches Projekt, um mithilfe von Freiwilligen die fehlenden Daten zu erheben. Man kann viele Datenpunkte sammeln, aber sichtbar werden die Muster mit mathematischen Methoden. Bürgerwissenschaft schärft auch das Bewusstsein. Wenn die Menschen sich intensiv mit der Umwelt beschäftigen, bekommt sie eine größere Bedeutung. Wir machen eine Pilotstudie. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie nicht nur präsentiert, sondern auch verwertet würde“, sagt Diana.

Wenn die Planung umgesetzt werden kann, führt die Überschneidung von Wissenschaft und Kultur zu erhellenden Ergebnissen. Ja, es ist ein Experiment, aber eins, dem jahrelange Überlegungen vorausgegangen sind. Es könnte dazu führen, dass einen Tag lang im Fluss geplantscht und Zeichnungen angefertigt werden. Es könnte zu einem Jahrhundertprojekt führen, bei dem Studierende eine wissenschaftliche Studie erstellen, die das Süßwasserleben in Samoa detailliert kartiert.

Beides ist möglich, und ich freue mich wirklich auf morgen. Wird jemand in den Fluss fallen? Werden die Studenten sich in die Hügel davonmachen oder werden sie bleiben und den Anweisungen folgen? Wird ein künftiger großer samoanischer Künstler oder Künstlerin sich von den Fluten des Vaisigano inspirieren lassen? Wird jemand in ein paar Jahren in einem Museum oder bei einer wissenschaftlichen Tagung ein fundiertes Forschungsprojekt zur Tierwelt im Südpazifik sehen? Passend zum heutigen Thema müssen wir abwarten und sehen.

Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Thielicke

Illustration of an arm with a singing bird sitting on it and a watch, people in the background waiting