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Plattform für Dialog, Perspektiven und Einblicke rund um die Pazifikregion

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Artikel

Aus Museum & Projekt

„Wir haben die Gelegenheit, den Menschen einen faszinierenden Einblick in ihre eigene Geschichte zu ermöglichen.“

Im Gespräch mit Tim Kong

Wenn Museumsinformationen akademischer Natur sind, wie können wir dann die Menschen erreichen?

Stellen Sie sich ein zentrales Portal mit einer umfassenden Sammlungen zur Vergangenheit vor. Ein zugänglicher Ort, an dem die Bewohner der pazifischen Inseln ihr Erbe wiederentdecken und mit ihm in Verbindung treten können. Dies ist die Arbeit, die Tim Kong als Director of Digital Experience (Direktor für digitale Erfahrungen) bei Te Puna Mātaruanga o Aotearoa – National Library of New Zealand – mit dem Projekt Digital Pasifik leistet. 

In diesem Gespräch untersucht Kong die Auswirkungen der großen Cs: Colonialism (Kolonialismus), Capitalism (Kapitalismus) und Christentum. Er ist davon überzeugt, dass der Zugang zu Daten es Künstlern ermöglicht, ihr Erbe zu untersuchen und neu zu gestalten und so neue Perspektiven zum institutionellen Wissen beizutragen, und dass alle Bewohner der pazifischen Inseln in den physischen Raum eingeladen werden müssen, nicht nur Forscher.

Die kulturellen Schätze der pazifischen Inselstaaten – von Artefakten über Fotografien bis hin zu Dokumenten – sind nicht nur in privaten Haushalten zu finden, sondern auch in Institutionen weltweit. Digital Pasifik fungiert als zentrale Plattform, die einen umfassenden Zugang zu diesen Schätzen ermöglicht. (Link zur Plattform Digital Pasifik: https://digitalpasifik.org/)

Doch Digital Pasifik ist mehr als nur ein Portal zur Vergangenheit. Es eröffnet den Menschen der pazifischen Inseln die Möglichkeit, ihr kulturelles Erbe neu zu entdecken und aktiv mitzugestalten; ihre Kulturen aus ihrer eigenen Perspektive zu betrachten, anstatt nur durch den Blickwinkel europäischer Kolonialmächte wahrgenommen zu werden, wie es bisher oft der Fall war. 

Tim Kong, Direktor für Digital Experience an der Nationalbibliothek von Neuseeland und maßgeblich am Digital-Pasifik-Projekt beteiligt, reflektiert intensiv darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart in der Pazifikregion geprägt hat und welchen Einfluss dies auf die Zukunft haben wird. 

“Sie kam als Teil eines kapitalistischen Modells, das sich an verschiedensten Ressourcen bediente, die vielen Menschen gehörten und beträchtliche Gewinne einbrachten. Gleichzeitig brachte sie eine neue Version von Religion und Glauben mit, die das Selbstbild und den Selbstwert der Menschen neu definierte.”

Er ist der Überzeugung, dass die Vergangenheit vor allem von drei großen, wenn auch oft unsichtbaren, Einflussfaktoren geprägt wurde: Kolonialismus, Kapitalismus und Christentum. Diese drei Glaubenssysteme haben seiner Meinung nach das Grundgerüst für die Weltanschauung in der Pazifikregion gebildet. In dieser Weltanschauung wird Fortschritt als kontinuierliche Weiterentwicklung, ständiges Wachstum und zunehmender Konsum definiert. Kultur wird als Besitz betrachtet, anstatt als lebendiger Prozess. Der Umgang mit Menschen wird oft als Teil von Transaktionen gesehen, nicht als menschliche Interaktion.

„Diese Weltanschauung gelangte in die Pazifikregion auf englischen, spanischen, französischen Schiffen“, erklärt er. „Sie kam als Teil eines kapitalistischen Modells, das sich an verschiedensten Ressourcen bediente, die vielen Menschen gehörten und beträchtliche Gewinne einbrachten. Gleichzeitig brachte sie eine neue Version von Religion und Glauben mit, die das Selbstbild und den Selbstwert der Menschen neu definierte.“

Es ist eine Weltanschauung, die sich in vielen Sammlungen widerspiegelt, zu denen digitalpasifik verlinkt. Sie spiegelt sich aber auch in den Metadaten wider, also in den Informationen die Museen und andere Institutionen zu den Objekten bewahren.

“Wir betrachten die Metadaten dieser meist westlichen Institutionen als eine Art Wahrheit und die Institutionen selbst als Hüter der Wahrheit.”

Diese Metadaten sind oft eine Momentaufnahme, wie Tim erklärt. Und zwar geht es um den Moment, in dem ein Sammler die Gegenstände genommen hat, oft mit minimalen Informationen zu ihrer Bedeutung und Verwendung und meist nur mit einem europäischen Begriff benannt. Die Daten mögen den Namen des Sammlers enthalten, aber nicht den des Künstlers oder Herstellers. 

„Wir betrachten die Metadaten dieser meist westlichen Institutionen als eine Art Wahrheit und die Institutionen selbst als Hüter der Wahrheit“, bemerkt er. „Doch diese Metadaten repräsentieren eigentlich nur eine spezifische Version der Wahrheit, die zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden ist, und nicht die gesamte Realität.“

Logo digitalpasifik
The digitalpasifik platform presents cultural heritage from the Pacific for Pacific Islanders

Dank der Digitalisierung der Kollektionen verschiedener Institutionen können nun pazifische Völker Gegenstände und Dokumente ihrer eigenen Geschichte betrachten, selbst wenn sie in anderen Teilen der Welt ausgestellt oder aufbewahrt werden. Diese Entwicklung gibt ihnen die Möglichkeit, die vorhandenen Metadaten zu überprüfen, zusätzliche Informationen hinzuzufügen, Anpassungen vorzunehmen und eine alternative Perspektive einzubringen.

Wenn Wissen Macht ist, dann hat dieses neu zugängliche Wissen das Potenzial, die Zukunft zu verändern.

„Ich glaube, dass eine Durchschnittsperson keine Vorstellung davon hat, wie viele Objekte und Informationen des kulturellen Erbes in diesen Institutionen aufbewahrt werden“, erklärt Tim. Er betont weiter, dass die große Mehrheit dieser Bestände sich in Depots statt in Ausstellungen befindet. „All das versetzt mich immer wieder ins Staunen. Es ist unglaublich wertvoll, dass die Menschen nun Zugang zu diesem enormen Umfang an Inhalten bekommen, insbesondere aber Zugang zu ihrer eigenen Geschichte.“

Als Beispiel nennt er die Salomon Islands. Wie viele andere Staaten im Pazifikraum, verloren auch die Salomon Islands mit dem Erlangen ihrer Unabhängigkeit den Zugriff auf Aufzeichnungen aus der Zeit der Kolonialherrschaft. Die Kolonialmächte nahmen die Dokumente meist mit, als sie die Region verließen. 

Ein Kollege von den Salomon Islands sagte zu uns: „Ihre Website ist fantastisch, weil wir Dinge finden, von deren Existenz wir nichts wussten. All unsere Aufzeichnungen beginnen mit dem Zeitpunkt unserer Unabhängigkeit.“

„Das bedeutet, dass die Möglichkeiten, ihre eigene Geschichte zu erzählen, auf den Zeitrahmen nach dem Abzug der Kolonialmacht aus der Region begrenzt ist. Wenn also ihre Version der Aufzeichnungen erst im Jahr 1978 beginnt und sie keinen Zugriff auf die Unterlagen der britischen Verwaltung ihrer Inseln haben, dann kann man diese Geschichte nur sehr eingeschränktverstehen.“

Ein ähnliches Problem besteht mit samoanischen Grundbüchern im neuseeländischen Nationalarchiv, die bis ins Jahr 1918 zurückreichen. 

„Sie wurden erst 2021 digitalisiert, zum Teil aufgrund dieses Projekts (Digital Pasifik). Bis dahin mussten Samoaner*innen, die diese Grundbucheinträge von 1918 einsehen wollten, erst einmal wissen, dass sich der Eintrag im neuseeländischen Nationalarchiv befand. Sie mussten dann den Zugriff darauf in den Archiven in Wellington anmelden und schließlich von Apia nach Wellington fliegen, nur um die Unterlagen ihres eigenen Landes zu sehen.

Informationen im Museum sind akademischer Natur, aber Kultur wird gelebt.

„Deshalb ist es ein enormer Fortschritt, Zugriff auf diese umfangreichen Aufzeichnungen zu haben und auf die digitalisierte Version der Dokumente, falls vorhanden, zugreifen zu können bzw. zu wissen, wie man darauf zugreift.“

Was das kulturelle Erbe betrifft, merkt Tim an, ermöglichen diese Sammlungen den pazifischen Künstler*innen, sie zu untersuchen, neu zu interpretieren und vielleicht sogar den Informationen der Institutionen einen neuen Blickwinkel hinzuzufügen. Ein samoanischer Kollege freute sich darüber, dass das nationale Museum in Neuseeland viele wunderschön fotografierte und erhaltene Tapa Beater einschließlich guter Metadaten hatte. Er bemerkte: „In Samoa liegen sie nur in der Küche, bis man sie braucht. Die jüngeren Samoaner*innen lernen von den Älteren. Man sitzt zusammen, stellt den Tapa-Rindenbaststoff her und legt dann das Werkzeug wieder zurück ins Regal.“

Informationen im Museum sind akademischer Natur, aber Kultur wird gelebt, sagt Tim. „Wie kann man also die Menschen einbeziehen?“

Er freut sich sehr über den digitalen Zugang, ist jedoch der Meinung, dass die Institutionen auch Wege finden müssen, um pazifische Insulaner*innen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, nicht nur aus der akademischen Forschung, zu ihren physischen Standorten einzuladen. Er spricht über die Arbeit der drei Künstler*innen, die im Rahmen des Workshops „Weaving a Narrative“ im Übersee Museum in Bremen uraufgeführt wurde. Das bot eine Möglichkeit, die Metadaten mit Geschichten anzureichern.

„Kein Museum und auch kein Kurator wäre auf die Idee gekommen, die diese Künstler*innen hatten. Ich halte es für wichtig, die Zugangsbeschränkungen zu lockern, sodass die Menschen weniger Hürden zu überwinden haben. Ich finde die Möglichkeit des direkten Zugangs vor Ort faszinierend, aber es wäre wichtig, dies kontinuierlich zu tun.“

Wir neigen häufig dazu, zu denken, dass die Sammlungen in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden sollten, sagt Tim, „aber für eine Vielzahl pazifischer Institutionen, mit denen ich gesprochen habe, wäre eine Rückführung wenig hilfreich, da es für sie schon schwierig genug ist, die Dinge zu verwalten und zu pflegen, die sie bereits haben. Und wenn man sich z. B. in Tuvalu befindet, weiß man, dass diese Inseln in hundert Jahren unter Wasser stehen werden. Also wäre es wenig sinnvoll, die Objekte aus den britischen Museen dorthin zurückzusenden.“

„In den Institutionen stellen wir überwiegend Menschen ein, die gut darin sind, sich um leblose Objekte zu kümmern. Mir schwebt aber vor, Menschen einzustellen, die offen darin sind, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, auch mit solchen, die vielleicht nicht ihre Sprache sprechen, nicht aussehen wie sie, oder sogar beim Anblick eines Gegenstands spontan anfangen zu singen oder zu weinen.“

„Ich glaube, dass wir hier die Möglichkeit haben, den Menschen von Tuvalu Zugang zu Aufzeichnungen und Objekten auf der ganzen Welt zu verschaffen und sie dabei auf eine Art und Weise zu unterstützen, die für sie von Bedeutung ist. Das erreicht man, indem man eine enge Beziehung zu diesen Menschen aufbaut. In den Institutionen stellen wir überwiegend Menschen ein, die gut darin sind, sich um leblose Objekte zu kümmern. Mir schwebt aber vor, Menschen einzustellen, die offen darin sind, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, auch mit solchen, die vielleicht nicht ihre Sprache sprechen, nicht aussehen wie sie, oder sogar beim Anblick eines Gegenstands spontan anfangen zu singen oder zu weinen.“ 

Er fährt fort, dass eines der Risiken darin besteht, dies wieder als Transaktion im kapitalistischen Sinne und nicht als menschliche Beziehung zu behandeln, nach dem Motto: „Wir lassen Sie rein, wenn Sie uns mit Informationen versorgen, die uns eventuell noch fehlen.“ „Wir müssen sie in ihren eigenen Gruppen als ihre eigenen organisatorischen Einheiten einladen, statt einfach zu sagen: ‚Lasst uns pazifische Menschen mit einbeziehen.‘“ 

Das Übersee-Museum verfolgt dabei einen hervorragenden Ansatz, sagt er. „Sie sind zum Beispiel gerade nach Samoa gereist und arbeiten dort mit der National University of Samoa zusammen, um unglaublich tolle Sachen zu machen. Es ist mir klar, dass das viel mehr Geld als eine Website kostet – aber es ist für die Menschen in Samoa so viel wertvoller und damit auch wesentlich langlebiger.“