Zum Inhalt springen

Plattform für Dialog, Perspektiven und Einblicke rund um die Pazifikregion

← Zurück zur Inhaltsübersicht

Artikel

Aus Museum & Projekt

Von dunklen Geschichten zu vielversprechenden Zukunftsperspektiven

Einblicke in eine Kooperation

Das Projekt Ozeanien Digital ist eine Koproduktion des Übersee-Museums Bremen und der National University of Samoa. In Gesprächen mit einigen der Hauptakteur*innen des Projekts dokumentiert die Autorin und Redakteurin Faiza Khan die transformative Reise von Ozeanien Digital. Sie deckt auf, was es bedeutet, unvoreingenommen an ein Projekt dieser Größenordnung heranzugehen, sie diskutiert den Dialog über den Zugang zu Museumssammlungen und gibt Einblicke, wie das Projekt ausbeuterische Geschichten in revolutionäre Zukunftsvisionen verwandelt.

Das Übersee-Museum Bremen hatte mich eingeladen, zu den Teilnehmenden des Projekts Ozeanien Digital zu sprechen, das allem Anschein nach die beachtliche Ozeanien-Sammlung des Museums modernisieren soll. Tatsächlich stellte ich fest, dass die geplanten Veränderungen wesentlich tiefer, radikaler und weitreichender ausfallen.

Mehrere Faktoren beflügelten mein Interesse an diesem Projekt – so hatte ich schon vorher mit dem Übersee-Museum zusammengearbeitet, und zwar in einer früheren Phase des Projekts, als Stipendien an Menschen von den Pazifikinseln vergeben wurden, damit sie mit dem Museum kooperierten. Das geschah im Rahmen ihrer Erfahrungen mit Critical Friends, als das Museum Expert*innen aus der ganzen Welt einlud, über die Probleme in ihrem jeweiligen Bereich zu diskutieren.

Meine gelegentliche Gespräche zeigten, dass vor allem die Leitung diesen Austausch sehr schätzte und jede Art nicht-destruktiver Kritik an ihrer Institution ernst nahm. Als ich mit den Verantwortlichen sprach, darunter Direktorin Wiebke Ahrndt und Projektleiterin Etta Grotrian, begeisterten sich beide für die Möglichkeiten, die Critical Friends freigesetzt hatte, und mich beeindruckte die Radikalität dieses Ansatzes und ihre aufrichtige Bereitschaft, auf die Kontrolle über das Gespräch zu verzichten. Eine Zurückhaltung, die ich in meiner eigenen Erfahrung als Herausgeber in meinem Bereich der Kulturindustrie schmerzlich vermisste.

An animal in a small tube, people in the background
A collected organism, Michael Stiller in the background with students in Samoa

CC BY-SA 4.0 Übersee-Museum Bremen, photo: Kush Seti

In den Gesprächen, die ich im Lauf der letzten Monate mit jedem einzelnen Teammitglied führte, erkannte ich nach und nach, was meiner Ansicht nach das Herz der Plattform „Der blaue Kontinent“ (das Projekt Ozeanien Digital) und in der Tat das Herz des Übersee-Museums bildet. Ohne ins Detail zu gehen, kann ich sagen, dass das Projekt auf Samoa ebenso ausgerichtet ist wie auf Deutschland, was allein schon außergewöhnlich ist. Es geht nicht einfach darum, alte und überholte Bezeichnungen und Forschungen zu modernisieren, sondern der Wissensschatz des Museums soll auf völlig neue Art genutzt werden.

Vom Leiter der Abteilung Naturkunde, die den bürgerwissenschaftlichen Teil des Projekts betreut, erfuhr ich, dass das Wissen über Ozeanien, das in den von der Kolonialverwaltung gesammelten Objekte gespeichert ist, mit Menschen aus Ozeanien geteilt werden sollen. Die Ausbeutung von Wissen zugunsten der Europäer ist laut Michael Stiller ein relativ neues Thema und wird von Fachleuten für Naturgeschichte diskutiert, wobei man sich von der falschen Vorstellung verabschiedet hat, dieser Bereich sei moralisch irgendwie neutral. Wie Michael Stiller sagt: „Das Wissen, das sich [Kolonialbeamte] aus den Kolonien aneigneten, wurde niemals mit den indigenen Völkern geteilt, niemals für das Wohlergehen dieser Länder oder ihrer Völker genutzt. Daher stellt sich mir die Frage, wie wir ihnen dieses Wissen zurückgeben können, wie wir einer ausbeuterischen Geschichte eine positivere Zukunft geben können.“

Nach ein paar Fehlstarts und einem Lernprozess im Umgang mit den digitalen Inhalten entstand zur Überraschung vieler als Pilotprojekt von Ozeanien Digital eine Facebook-Gruppe (Facebook ist das bevorzugte Social Media der pazifischen Inselbewohner, es ist am leichtesten zu erreichen, es sammelt die wenigsten Daten). Mit der Hilfe der externen Beraterin Franziska Mucha wurde es größtenteils vom australisch-samoanischen Kurator Mitiana Arbon implementiert, der besonders den Gebrauch von Social Media auf den pazifischen Inseln untersucht hat. Zum Einstand von Ozeanien Digital wurde der Zugang zu den Sammlungen geöffnet, indem Bilder in samoanischen Facebookgruppen geteilt und Gruppen ausfindig gemacht wurden, die sich für Geschichte, alte Fotografien, die koloniale Vergangenheit Samoas interessierten. Das Ergebnis war ein großzügiges und anscheinend unbefangenes Interesse an diesen Bildern von Orten oder von Gegenständen, eine Mischung von Fakten und Erinnerungen, aber auch intimeren Momenten, etwa der Inhalt von Träumen. Mich interessierte das alles sehr, aber so richtig wurde mir erst nach einigen Tagen klar, wie außergewöhnlich das war, und ich fühlte eine Art verspäteten Ärger darüber, dass diese revolutionären Geschehnisse alle möglich sind, wenn jemand bereits ist, sich dafür einzusetzen. Meiner Einschätzung nach wollen westliche Museen sich den Pelz waschen, ohne ihn nasszumachen – westliche Fachleute bewundern Kunsthandwerk aus früheren Kolonien, aber die Menschen, die diese Dinge geschaffen haben, die dieses Handwerk heute noch ausüben, werden nicht nach ihrer Meinung gefragt.

Hinzu kommt die Frage nach der Auswahl von People of Colour, die der Ansicht sind, sie müssten nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kultur sprechen – selbst auf die Gefahr hin, dass sie ein falsches Bild abgeben oder sich nach Meinung der Anderen für eine begehrte Stelle in einem westlichen Institut verkaufen. Ich kenne diese Zwickmühle aus dem Verlagswesen und konnte das daher gut nachvollziehen, als ich mit Aiga sprach, einer samoanischen Praktikantin an diesem Projekt, die von der National University of Samoa dazugestoßen war. Sie liebte ihre Arbeit an Ozeanien Digital, gab aber auch Folgendes zu bedenken: 

Woman in red dress with white gloves, holding a club in her hands, in the background there are other artifacts
Aiga Niualuga in the museum's visible storage

CC BY-SA 4.0 Übersee-Museum Bremen, photo: Volker Beinhorn

„Mir ist immer bewusst, dass ich Samoa, das Centre for Samoan Studies und meine Familie repräsentiere. Diese Rolle enthält viele Aspekte, zum Beispiel einen guten Job zu machen und anderen neue Chancen zu bieten. Und ich fühle die Verantwortung, wenn ich für meine Gemeinschaft spreche. Ein Beispiel: In der Ausstellung sieht man unter Anderem traditionelle Tattoos, also habe ich auch mein eigenes Tattoo gezeigt. Zunächst war es mir eine Ehre, doch dann war ich nicht mehr so sicher. Ich fühlte allmählich, dass mein Tattoo nicht mir gehört, sondern meinem Mutterland, und es gehört zu den Tattoos aller anderen. Andere Samoaner könnten mich kritisieren, weil ich versuche, Ausländern diese Bedeutung zu erklären.

Ich empfinde es auch als eine Belastung, dass ich einen falschen Eindruck von Samoa vermitteln könnte, deshalb nehme ich mir Zeit, Fragen zu beantworten. Nur weil ich aus Samoa stamme, bin ich noch lange keine Expertin für alle seine Aspekte, und ich möchte nicht die Fachfrau für alles hier spielen, nur weil ich hier lebe.“

Etta Grotrian in the storage during the online conference with colleagues in Samoa

CC BY-SA 4.0 Übersee-Museum Bremen, photo: Volker Beinhorn

Dass Aiga ihre Bedenken so frei und ungezwungen äußern konnte, spricht Bände für die Offenheit und das Gefühl von Sicherheit, das das ganze Ozeanienteam ausstrahlte.

Etta Grotrian, die Projektleiterin, fühlt sich der Veränderung offensichtlich ganz und gar verpflichtet. Mit ihren Worten: Europäische Museen können sich nicht länger anmaßen, die Welt auf der Grundlage von im Kolonialismus gesammelten Objekten zu erklären.

Als Fortsetzung des Projekts sollten, so wünscht sie es sich, die Leute über den künftigen Zweck von Museen diskutieren und sich dabei viel stärker darauf konzentrieren, wie Sammlungen zugänglich gemacht werden, wenn Menschen nicht ins Museum kommen können. Etta Grotrian sieht die Zukunft von Museen darin, in einen Dialog mit dem Rest der Welt zu treten. In ihren Worten: „Ich sehe, das Projekt könnte später zu einem Dialog über die Museumssammlungen, über Museen als koloniale Projekte führen. Das wird uns meiner Meinung nach helfen, die Zukunft von Museen zu definieren.“

„Ein entscheidender Teil des Prozesses war die Haltung, etwas anzufangen, ohne dass wir genau wussten, wohin uns das führen würde. Wir landeten bei Ozeanien Digital und waren für alle Möglichkeiten offen.“
A woman with flowers around her neck and a paper in her hand, greating someone, laughing
Wiebke Ahrndt at an official welcoming ceremony in Samoa

CC BY-SA 4.0 Übersee-Museum Bremen, photo: Gese Gese

Ich verglich das mit meinen Erfahrungen mit der Kulturindustrie – in meinem Fall als Herausgeber –, und ich bin zunehmend davon überzeugt, dass die Suche nach einer hieb- und stichfesten Lösung selbst ein Problem sein könnte. Nach meinen Gesprächen mit Ozeanien Digital habe ich den Eindruck, dass das Übersee-Museum den Raum für eine Arbeitsplatzkultur schafft, wo man sagen kann: „Wir wissen, dass etwas vor sich geht, aber wir wissen nicht genau, was da zu tun ist.“ Museumsdirektorin Wiebke Ahrndt formuliert es so: „Ein entscheidender Teil des Prozesses war die Haltung, etwas anzufangen, ohne dass wir genau wussten, wohin uns das führen würde. Wir landeten bei Ozeanien Digital und waren für alle Möglichkeiten offen.“ 

Ein weiteres radikales Element des Projekts Blauer Kontinent war die Transparenz des Prozesses, und das ging so weit, dass der Prozess selbst zur Grundlage der Ausstellung wurde. Wie Etta sagt: „Die digitale Erfahrung wurde zu einer Ausstellung über das, was wir gelernt haben und über unseren Prozess, nicht aber zu einer Schau mit den Dingen, die wir über Ozeanien wissen.“

Bedeutet das, dass gute Absichten und Abenteuergeist ein Projekt von Anfang an reibungslos laufen lassen? Franziska Mucha, eine externe Museumsfachfrau, die schon früh zu dem Projekt stieß, erkannte, dass das Neue an der Ungewissheit, an der Entdeckungsreise, auch als abschreckend wahrgenommen werden konnte. 

Sie sagt: „Ich stellte fest, dass die Furcht vor neuen Prozessen auf viele Teammitglieder fast lähmend wirkte – weil sie nicht wussten, wohin die Reise ging, fühlten sie sich wie ohnmächtig. Je offener der Prozess ist, desto disziplinierter müssen die Routinen eingehalten werden. Vertraut dem Prozess!“

Mir wurde klar, dass diese Furcht weniger die Leitung betraf, da ihr bewusst ist, dass „Fehler“ zur Datensammlung gehören und wie man zu einer Lösung gelangen kann. Michael Stiller: „In diesem Projekt gehen wir auf eine Reise, und am Anfang kennt keiner den Weg.“

Wir leben in einer postkolonialen Welt, die nicht rückgängig gemacht werden kann, der Garten Eden ist verschlossen. Das ist mir gefühlsmäßig klar, denn ich komme aus Pakistan, einem Land, das als direkte Folge der britischen Kolonialherrschaft entstand. Vielleicht ist die einzige Lösung das Sprechen darüber. Eine fast amüsante Ironie besteht darin, dass beim aktuellen Streben nach Inklusion nicht daran gedacht wurde, mehr Stimmen einzubeziehen, und dass die Strategien bis heute von Führungskräften entworfen werden, die von jeher zu dieser Welt gehören. Selbst dabei haben sie uns ausgeschlossen. Aufrichtige Kommunikation setzt voraus, dass die westlichen Fachleute, die bei jedem Austausch schon immer ganz oben stehen, bereit sind, einen Teil dieser Macht abzutreten. Das Übersee-Museum beweist, dass das möglich ist und dass das nicht nur ethisch ist, sondern auch ein gangbarer Weg für alle kulturellen Einrichtungen, die ihre Bedeutung behalten, ihren Markt vergrößern und lernen möchten.

(Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Thielicke)