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Aus Museum & Projekt

„Wir glauben, dass zu der Biografie eines Objektes auch die damit verbundenen Gespräche und Geschichten gehören“

Im Gespräch mit Etta Grotrian

Was bedeutet es, eine nachhaltige Infrastruktur für Informationen aufzubauen?

Das Übersee-Museum Bremen und die National University of Samoa haben in ihrem Kooperationsprojekt Sammlungen aus der Region Ozeanien einer neuen Betrachtung unterzogen. Die digitale Strategin des Museums, Etta Grotrian, spricht hier über die digitale Erweiterung mit Blick auf ein globales und pazifisches Publikum, das Ringen um Eigentum und Rückgabe sowie die allgegenwärtige Frage der Zugänglichkeit von Informationen und darüber, wie wir Projekte nachhaltig gestalten können.

Die Restauratorin mit den weißen Handschuhen bewegte sich vorsichtig durch das Magazin des Übersee-Museum Bremen. Sie hielt sorgfältig ausgewählte Objekte aus Samoa vor die Kamera des iPads und drehte sie dabei hin und her. Auf der anderen Seite der Welt, in dem pazifischen Inselstaat, schauten Wissenschaftlerinnen und Kunsthandwerkerinnen konzentriert auf ihre Bildschirme, um so viele Details wie möglich zu erkennen: Können Sie näher heranzoomen? Können Sie uns die Faser zeigen? Können Sie den Geruch wahrnehmen und ihn beschreiben?


„Das ist das erste Mal, dass ich Objekte aus einer Museumssammlung so nah betrachte, obwohl ich bereits seit 20 Jahren im Museum arbeite,“ sagt Etta Grotrian im Magazin. Sie ist Strategin für digitale Medien im Übersee-Museum Bremen. Traditionell liegt der Fokus der Museen darauf, die Artefakte so gut wie möglich zu erhalten, was bedeutet, sie so wenig wie möglich anzufassen. Allein das Herausnehmen und Zurückstellen der Objekte ins Regal gilt als Risiko. Jetzt jedoch wird an ihnen gerochen! Die neue Herangehensweise besteht darin, mithilfe von Personen im weit entfernten Samoa ein Verständnis für die Geschichten und Fragen rund um die Artefakte zu erlangen. Dazu gehören Informationen wie ihre Herstellung und Verwendung sowie die Rolle, die sie bei Zeremonien oder im Alltag spielten.

Natürlich ist das Publikum im Internet anders, und ein großer Teil dieses Projekts drehte sich darum, Gespräche zu führen, Menschen einzuladen und alle dazu zu ermutigen, über ihre Arbeit neu nachzudenken

An diesem Tag im Jahr 2022 erlebte Etta Grotrian einen bedeutenden Schlüsselmoment. Sie begann zu erkennen, wie stark sich ein globales Publikum von einem lokalen deutschen Publikum unterscheidet und wie sehr das Museum seine Vorgehensweise hinterfragen muss, wenn es Objekte aus den Sammlungen digitalisiert und online zugänglich macht, sodass sie von der ganzen Welt betrachtet werden können.

„Natürlich ist das Publikum im Internet anders, und ein großer Teil dieses Projekts drehte sich darum, Gespräche zu führen, Menschen einzuladen und alle dazu zu ermutigen, über ihre Arbeit nachzudenken,“ erklärte sie.

„Wenn die Objekte zurück im Depot sind, liegen sie einfach dort. Sie werden selten betrachtet, und niemand entwickelt eine Verbindung zu ihnen. Natürlich können wir nichts dafür, da wir nicht alles aus dem Depot in der Ausstellung zeigen können. Deshalb wurde mir klar, dass es wichtig ist, die Rolle eines Museums wie dem unseren zu überdenken. Es geht darum, unsere eigenen Arbeitsabläufe und Standards zu hinterfragen.“

Die Zoom-Präsentation markierte den ersten Schritt in einer Partnerschaft zwischen dem Übersee-Museum Bremen und der National University of Samoa. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit werden die Artefakte des Museums aus der Region Ozeanien, einschließlich Objekten aus Samoa, neu untersucht. Die Sammlung stammt aus der Kolonialzeit, und eine erneute Untersuchung in den 2020er-Jahren wirft zwangsläufig Fragen zum Kolonialismus, zu den Eigentumsverhältnissen sowie zu den begrenzten, auf Europa ausgerichteten Zusatzinformationen oder Metadaten auf, die dem Museum zu jedem Objekt vorliegen.

Es war von Anfang an klar, dass wir das Projekt nicht nur für ein deutsches, sondern auch für ein pazifisches Publikum umsetzen.

Es hat dazu geführt, dass sich das Übersee-Museum mit dem Wissen und den Gefühlen von Menschen auseinandersetzen muss, die sich mit der Geschichte und Bedeutung der Artefakte auskennen; mit den Gesprächen und Reaktionen, die sie hervorrufen. 

Zu Beginn dieses digitalen Projekts und der Partnerschaft äußerte Etta Grotrian: „Ich denke, viele meiner Kolleg*innen, besonders die Kurator*innen, erwarteten von uns, dass wir eine Fülle von Multimedia-Inhalten vorbereiten und online veröffentlichen. Sie gingen davon aus, dass es sich um dieselben Geschichten wie in der physischen Ausstellung handelt.“ Es wurde jedoch von Anfang an deutlich, „dass wir das Projekt nicht nur für ein deutsches, sondern auch für ein pazifisches Publikum umsetzen.“ Dem Museum fehlten erklärende Metadaten – das Storytelling – das für die Menschen in der Pazifikregion erforderlich ist.

Eine Online-Community entstand, die das Wissen des Museums über die Objekte selbst ergänzte.

Im Übersee-Museum Bremen begann man unter anderem damit, eine Facebook-Seite aufzubauen, auf der Mitiana Arbon, Ko-Kurator mit samoanischen Wurzeln, Fotos von Objekten aus der Sammlung teilte. Die Leute reagierten begeistert darauf.

„Diese Verbundenheit war ein tolles Gefühl. Sich auszutauschen und zu erfahren, welche Teile unserer Sammlung die Menschen ansprechen und was das mit ihrem aktuellen Leben zu tun hat,“ erläutert Etta Grotrian. 

Eine Online-Community entstand, die das Wissen des Museums über die Objekte selbst ergänzte. Die Mitglieder dieser Community steuerten beispielsweise Geschichten über Orte, Erinnerungen und Traditionen bei, die mit historischen Fotos verbunden waren. Dies markierte einen weiteren Wendepunkt für das Museum.

„In Museen herrscht oft die Annahme, dass einmaliges Wissen online bereitgestellt wird und andere dazu beitragen können, sodass das Wissen dann vollständig ist,“ erklärte Etta Grotrian. „Der Wunsch, Antworten auf alle unsere Fragen zu erhalten, ist bei Museumsmitarbeiter*innen weit verbreitet.“ 

Sie fügt jedoch hinzu: „Wir sind nicht die alleinigen Wissensträger.“

„Wir glauben, dass zu der Biografie eines Objektes auch die damit verbundenen Gespräche und Geschichten gehören.“

Die Mitglieder der Community in Samoa bereicherten uns mit ihren Perspektiven und Geschichten, indem sie uns Einblicke in ihre Gespräche und Emotionen gewährten. Laut Etta Grotrian „ist es eine Herausforderung, dies in das System eines Museums zu integrieren, aber genau das ist unser Ziel. Wir glauben, dass zu der Biografie eines Objektes auch die damit verbundenen Gespräche und Geschichten gehören.“

Aus diesem Grund organisierte das Übersee-Museum Bremen den Online-Workshop „Weaving a Narrative“, an dem Storyteller, Dichter*innen und Künstler*innen sowie Personen mit archivarischem oder kuratorischem Hintergrund teilnahmen.

Manchmal fragt sich Etta Grotrian, ob den Museumsmitarbeiter*innen bewusst war, welche Dimensionen die digitale Partnerschaft annehmen würde. „Ich glaube, sie haben tatsächlich an eine herkömmliche Ausstellung gedacht, bei der man das Thema und die Objekte auswählt, sie beschreibt und einen schönen Raum einrichtet“, nur dass alles auch online präsentiert wird. „Andererseits haben sich die Erfahrungen, die durch die Einladung von Künstler*innen, das Zuhören und das Einnehmen neuer Perspektiven sowie das Finden von Inspiration ermöglicht wurden, so stark entwickelt“, dass die Möglichkeiten unendlich erscheinen und die Ideen die Ressourcen des Museums bei Weitem übersteigen.

In einer physischen Ausstellung ist es üblich, dass sie irgendwann abgebaut und Platz für die nächste Ausstellung gemacht wird. Man hat Kontrolle über Zeit und Raum. Doch wie sieht es mit einer Unterhaltung online aus? Kann man die einfach beenden? Oder kann man eine Sammlung, die ein globales Publikum anzieht, einfach offline nehmen? Und wenn nicht, wie findet man die Mittel, um die Webseite am Laufen zu halten und auf Kommentare zu reagieren, während man bereits am nächsten Projekt arbeitet? Kann man sich sicher sein, dass die Webseite weiterhin mit der aktuellen Technologie oder dem Hosting-Service betrieben werden kann? All diese Fragen sind für das Museum neu und stellen neue Herausforderungen dar.

Durch ein weltweites Publikum entstehen auch vermehrt Fragen zur Rückgabe von Gegenständen, die während der Kolonialzeit entwendet wurden. Etta Grotrian erinnert sich erneut an die Zoom-Sitzung im Jahr 2022.

„Ich erinnere mich an eine der letzten Sitzungen, die äußerst interessant war, weil sie diese Frage offen ansprachen: Wann werden die Objekte zurückgegeben? Es gab klare Vorstellungen darüber, was in Samoa gezeigt werden soll. Nun müssen wir herausfinden, welche Objekte nach Samoa zurückgebracht werden können, wie der Transport organisiert wird, wie sie ausgestellt werden können, wie lange sie dort bleiben sollen, wann sie zurückkehren, und ob eine Rückkehr überhaupt möglich ist.

All diese Fragen kamen auf, und es war interessant, weil es nicht nur darum ging, den Leuten unser Depot zu zeigen, sondern auch um Fragen zu stellen.“